Das politische Jahr 1965: Eine Anthologie der Fehlleistungen

Das hier und dort durch die ersten Wochen des Jahres 1966 vollendete Jahr 1965 ist eine Art vollständige Parade des Scheiterns aller Varianten der bestehenden Macht gewesen, sowie die ihrer Ersatzlösungen in der Opposition. Die bestehende Ordnung ist nach wie vor durch keine Negation bedroht worden, aber ihr eigenes Funktionieren hat überall Fehltritte, Lähmungen und Enttäuschungen angehäuft. Da die gegenwärtige Welt schon durch ihre Ökonomie und die Notwendigkeit der Unterdrückung einheitlich ist, gelingt es keiner der Mächte, die sie im Griff halten, sie ganz zu beherrschen bzw. durch eine zufriedenstellende Verteilung ins Gleichgewicht zu bringen oder ihr irgendwo eine Orientierung aufzuzwingen, die den Anspruch auf Rationalität erheben könnte. Es konnte auch keine Macht ein einziges ihrer Projekte durchführen trotz des Preises, den sie zu bezahlen und die anderen bezahlen zu lassen fähig ist.

Der Mythos des ’sozialistischen Lagers’ hat sich im öffentlichen und wiederholten heftigen Streit seiner Regenerierungen, in den jetzt sogar Beschimpfungen zwischen Kuba und China mit hineingezogen werden, ganz aufgelöst. Alle seine Abteilungen mit China an erster Stelle haben sich als unfähig erwiesen, effektiv auf den offenen Angriff der Vereinigten Staaten in Vietnam oder sonstwo zu antworten. Die mit Stalin-Mao-Soße gewürzte ‘Richtung der Geschichte’ wird durch die allgemeine amerikanische Offensive verhöhnt. Seit der ‘Raketenkrise’ in Kuba sehen wir einer ‘wilden Flucht’ zu, “die eine neue Periode im Gleichgewicht der Weltteilung einleitet” wie wir im Januar 1963 in der ‘S.I.’ geschrieben haben, indem wir zeigten, dass das gemeinsame russisch-amerikanische Spiel (keinen thermonuklearen Krieg führen, “indem man sich aber immer höher im Spektakel eines möglichen Krieges emporschwingt”) Russland dazu führte, die Folgen “seiner falschen Berechnung der theatralischen Weltstrategie” ertragen zu müssen. Daraus folgte eine Beschleunigung der Zersetzung der internationalen bürokratischen Vereinigung sowohl auf politisch-militärischer als auch ideologischer Ebene.

Die inneren Schwierigkeiten der bürokratischen Staaten kommen immer mehr als tieferliegende Gründe zum Vorschein. Während sie der Verwaltung der Industrie und noch deutlicher der der Landwirtschaft entspringen, zeigen sich diese Schwierigkeiten überall in der Sphäre der politischen Kontrolle aller Aspekte des Lebens. In Russland erweitert sich die geheime Opposition der Intellektuellen. In Kuba wird die Universität in Habana von ihren ‘Homosexuellen’ gesäubert; die durch die Mordversuche an Castro hervorgerufene Bestürzung lässt die ’sozialistische’ Wirklichkeit eines Regimes ermessen, das von einem einzigen Mann abhängig ist, und in der Selbstkritik des Angeklagten Cubela, eines Revolutionärs, der “ein ausschweifendes Leben geführt hat” und “nicht verstehen kann”, wie er dazu gekommen ist, sich gegen den von ihm so geliebten Castro zu verschwören, taucht der Bucharin der Moskauer Prozesse wieder auf. Der ‘Quotidien du Peuple’ gibt im August 1965 “den unvermeidlichen Unterschied des Lebensstandards der Konsumenten als in der sozialistischen Gesellschaft erlaubt und notwendig” zu (Ideologie der Erweiterung der Schichten, denen die bürokratische Verteilung des Mehrwerts zugutekommen darf). Und der Obergerichtshof der Föderativen Republik Russlands beschließt, die Jugendkriminalität zu bekämpfen, indem er die Eltern verklagt (AP-Moskau 2.6.65), d.h. also, dass er die Familien für gesetzlich verantwortlich hält für die unmittelbare Anwendung ihrer Autorität, die für den Staat unerlässlich ist.

Die über die mächtigsten Mittel verfügenden Vereinigten Staaten, die zudem in der Lage sind, diese in immer weiteren Gebieten einzusetzen, haben die wenigsten endgültigen Misserfolge gehabt - sie konnten es jedoch nirgends zum Erfolg bringen. Während im Inneren die Aufstände der Schwarzen und die Revolte der Universitätsjugend, die auf dieser Stufe der ökonomischen Entwicklung eine beträchtliche Gesellschaftsschicht darstellt (zahlenmäßig sind es 5 Mio. Leute), beginnen, das Herannahen einer neuartigen Krise zu beleuchten, konnte die massenhafte militärische Überseeintervention nicht den Widerstand der vietnamesischen Kämpfer brechen - und auch nicht die Ordnung zugunsten der Generäle in Santo-Domingo wiederherstellen. Dafür hat in einem sehr großen Teil Lateinamerikas ein Partisanenkrieg angefangen. Im direkten Verhältnis zu ihrem Gewicht werden die Vereinigten Staaten in endlosen Konflikten versumpfen: das Unglück ihrer Politik besteht darin, dass sie immer wieder der Veränderung gerade dort entgegentreten müssen, wo sie am notwendigsten und dringendsten ist - und alle Rechenautomaten ihrer Psychosoziologen können sie nicht davon befreien.

Die Reserveverwaltung des westlichen Kapitalismus - das Modell des zum Sozialismus tendierenden Reformismus - hat sich noch einmal bewährt - in Deutschland dadurch, dass sie nicht zur Macht kam und in England dadurch, dass sie zur Macht kam. Die deutsche Ex-Sozialdemokratie wurde bei den Septemberwahlen fast zufällig geschlagen - , denn der ‘engagierte Schriftsteller’ Günther Grass war vielleicht der einzige, der nicht wusste, dass die Versöhnung mit den demo-christlichen Grundsätzen so weit vervollkommnet worden war, dass man sich in keinem Punkt mehr von ihnen unterscheiden konnte. So dass ein Mitglied des Stabs von Willy Brandt laut ‘Le Monde’ vom 14.9.65 sagen konnte: “Auch wenn wir nicht gewinnen, haben wir dieses Jahr doch einen Sieg davongetragen. Keiner - oder fast keiner - hält uns noch für Rote!” Ohne Wilson für einen Roten zu halten, kann einem der Sinn für Humor auffallen, den er seit dem Wahlsieg der englischen Linken an den Tag legt. Die Labour-Regierung hat wie keine andere dem Massenmord in Vietnam Beifall gespendet. Gegen die Sezession der Rassisten in seiner Rhodesien-Kolonie ist er deutlich schlimmer als De Gaulle vorgegangen, obwohl er nicht durch eine Verschwörung der Siedler von Salisbury zur Macht gelangte. Seine hauptsächliche Arbeit im Inneren besteht darin, aus den Gewerkschaften die perfekten Ausführungsorgane der ökonomischen Beschlüsse der Macht zu machen und vor allem zu versuchen, die Arbeiter durch Gesetze gegen die ‘wilden Streiks’ ganz und gar auf die Rolle der Ausführenden der Befehle der Gewerkschaften zu reduzieren. Und doch hatte der Machtantritt Wilsons zu den klassischen Vergeltungsmaßnahmen der ‘Mauer des Geldes’ geführt, die alle Analytiker der ‘Industriegesellschaft’ für seit 1924 nicht mehr möglich gehalten hatten; was sogar ‘Le Monde’ vom 23.12.64 zu folgendem fürchterlichen Schluss geführt hatte: “Die große Lehre, die aus der aktuellen Krise in Großbritannien zu ziehen ist, heißt, dass die westlichen Gesellschaften immer noch vom Kapitalismus beherrscht werden”.

Was das betrifft, was in den Zeitungen die ‘Dritte Welt’ genannt wird, hat sie gerade eine phantastische Anhäufung von Zusammenbrüchen erfahren müssen, die keiner ihrer trügerischen Ansprüche und Hoffnungen überleben wird. Zusammenbruch des ‘fortschrittlichen Lagers’ in der arabischen Welt, von dem nur Machtfragmente übrigbleiben, die genauso zerbrechlich wie die des reaktionären Lagers im Dienst des Westens sind. In Ägypten häuft die bürokratisch-militärische Verwaltung Misserfolge an und muss zusehen, wie die Verschwörungen der dunkelsten Kräfte herannahen. Sie hat außenpolitisch genau so wenig Glück: im Yemen, wo mit Saudi-Arabien um die junge Republik gefeilscht wird; im Irak, wo die Anerkennung des ‘Rechtsnasserismus’ schließlich die Macht der reinen Rechten und die Rückkehr der vor 1958 amtierenden Minister legitimiert hat. Die Baath-Partei, die aus dem Irak vertrieben und auf ihre ’syrische Provinz’ reduziert wurde, lässt dort ihre verschiedenen putschistischen Fraktionen sich untereinander zerstören. Militärs und Zivilisten, ‘Extremisten’ und Gemäßigte folgen einander an der Macht genau so vergeblich, und alle ‘Persönlichkeiten’ der Partei und Chancen haben sich hier erschöpft. Was den ‘Benbellismus’ betrifft, ist er in einer einzigen Nacht zusammengebrochen.

Die Grundlagen einer ‘revolutionären’ Vereinigung der afrikanischen Staaten sind genauso vollständig zusammengebrochen. Die quasi nicht vorhandene Organisation der Afrikanischen Einheit hat sich selbst am Tage nach der Unabhängigkeitserklärung Rhodesiens das Urteil gesprochen, indem sie nicht das Risiko auf sich nahm, militärisch in dieses Land einzugreifen. Sie musste sogar gestehen, dass sie unfähig sei, mit England zu brechen, nachdem sie es der ganzen Welt in einem sehr kurzfristigen Ultimatum angekündigt hatte. In Ghana sind ‘der Erlöser’ Nkrumah und seine Partei plötzlich vor einer einfachen militärischen Verschwörung entschwunden, genauso wie sechs andere Regime des afrikanischen Kontinents in den vorhergehenden Tagen. Diese Tatsachen sind so viele zusätzliche Misserfolge der unsinnigen Außenpolitik Pekings.

Nichts ist jedoch so stark wie der blutige Zusammenbruch des indonesischen Stalinismus, der durch seine bürokratische fixe Idee so weit verblendet war, dass er sich eine Machtergreifung nur von einer Verschwörung und Palastrevolution versprach, während er eine riesige Massenbewegung kontrollierte, die er zur Vernichtung führte, ohne sie kämpfen zu lassen (Man spricht jetzt von 300.000 Erschießungen). Obwohl der unverfrorene Sukarno immer noch über die verschiedenen Untergebenen seiner Getreuen erhaben ist, hat das zweite ‘Bandoeng’-Treffen, das schon nicht mehr in Algier stattfinden konnte, seine besten Stars verloren. Der neutralistische indische ‘Sozialismus’ führte zum Pandschab-Krieg, zur militärischen Unterdrückung der Minderheiten und der Arbeiterdemonstrationen, zur Hungersnot. So gesteht die durch den Druck rivalisierender Imperialismen zerrüttete spektakuläre Verbrüderung der afro-asiatischen Staaten im Sterben, dass sie nur in der Illusion vorhanden war.

Da alle überall ein wenig geführten Repressionen gleichfalls scheitern, kennzeichnen diese wasserfallartigen Misserfolge eine erbärmliche Welt, in der keiner seine Ziele durchsetzen kann; in der die Ereignisse ganz anders stattfinden als der Wille derer, die sie zu leiten glauben, es sich vorgestellt hatten; in der die List der Ware weiterhin die menschliche Geschichte irreführt. Diese Folge zwerchfellerschütternder Gags in der Komödie der Macht ist nur der politische Ausdruck der universellen Trennung zwischen allen Systemen und allen Realitäten.