Die Ideologie des Dialogs

Die situationistische Praxis des Bruchs mit denen, die irgendein Fragment der gegenwärtigen Ordnung bejahen (sie ist besonders sichtbar gegenüber den Verantwortlichen für die Kultur und die Politik der Unterwerfung), sowie deren Grenzfall - der Ausschluss einiger S.I.-Mitglieder - ist unsere am meisten missverstandene Haltung, obwohl sie auch die natürlichste ist, die unmittelbar aus unseren grundsätzlichen Positionen folgt. Darüber haben gewisse Kommentatoren die meisten gehässigen Interpretationen verbreitet, die sogar halb unterrichtete Leute beunruhigen konnten. In diesem bestimmten Fall ist die Wirklichkeit sehr einfach. Diejenigen, die eine bzw. mehrere Varianten des vorhandenen falschen Dialogs akzeptieren, werden zu Verteidigern einer neuen Art des Freihandels im Namen eines abstrakten Rechts auf den Dialog um jeden Preis (wobei dieser in Form von ausgesprochenen Zugeständnissen an die Lüge bezahlt werden muss) und werfen uns vor, den falschen Dialog zu unterbrechen. Wir können uns jedoch nur dadurch und nicht anders als Träger des wirklichen Dialogs behaupten. Was das Problem der Ausschlüsse betrifft, sind wir der Meinung, dass wir auf experimentelle Weise das wünschenswerte Vorbild der nicht-hierarchisierten Organisation eines gemeinsamen Projekts gefördert haben, das nur durch die Selbstdisziplin der Individuen aufrechterhalten werden kann, die sich selbst in der Kohärenz der Theorien und der Handlungen erproben, durch die jeder den Anspruch erheben kann, alle anderen zu verpflichten. Die einseitigen Auffassungen Stirners über die Beziehungen des Egoisten zur Organisation, die er je nach Laune wählt und verlässt (obwohl sie einen wahren Kern dieses Aspekts der Freiheit enthalten), ermöglichen seiner passiven und entwaffneten Schattenorganisation keine selbständige Basis. Sie besteht als Organisation nur um momentan einen einzigen ‘Egoisten’ anzulocken, dessen persönliches Spiel mit Recht den groben Soziozentrismus dieser belanglosen Organisation verachtet (tatsächlich kann das stirnerianische Individuum genau so gut dem reaktionärsten Verein beitreten, um aus ihm seinen persönlichen Vorteil zu ziehen). Aber jede freie Vereinigung - “ein Band und keine Macht” -, in der mehrere Individuen auf gemeinsamer Basis zusammenkommen, kann nicht der passive Gegenstand einer einzigen Laune sein. Diejenigen, die weder beurteilen noch befehlen wollen, müssen jeden von sich weisen, dessen Verhalten sie verpflichten will. Wenn die S.I. jemanden ausschließt, fordern wir von diesem Individuum keine Rechenschaft über sein Leben, sondern über das unsrige, über das gemeinsame Projekt, das er - zu feindlichen Zwecken oder aus Mangel an Einsicht - fälschen wollte. In unseren Augen bleibt jeder für sich selbst frei (dass diese Freiheit im allgemeinen arm ist, ist eine andere Frage, ohne die solche Unternehmen wie die S.I. zur Zeit überhaupt nicht notwendig wären) und indem wir ein Individuum, das immer autonom geblieben ist, seiner alleinigen Freiheit übergeben, teilen wir dadurch nur mit, dass diese Autonomie sich innerhalb unseres gemeinsamen Projekts nicht entwickeln konnte: Indem wir einen nach den Spielregeln zurückweisen, deren Annahme er geglaubt bzw. vorgetäuscht hatte, weisen wir eigentlich unseren eigenen Verzicht zurück.

Es scheint uns von Nutzen zu sein, diese Äußerungen durch Auszüge aus zwei Briefen zu präzisieren, die wir vor kurzem an einen unserer Korrespondenten in Osteuropa geschrieben haben.

(Aus dem ersten Brief.) Einige unserer theoretischen Positionen - über das Spiel, die Sprache usw. - würden nicht nur Gefahr laufen, unwahr und wertlos zu werden, sondern sie wären heute schon wertlos, wenn wir sie in Koexistenz mit dem Dogmatismus einer Lehre verteidigen würden, welche immer diese auch sein würde. Wir sind alle mit Ihnen der Meinung, dass “die Freiheit, alle ungewohnten Wege zu gehen” absolut sein muss - und nicht nur auf dem künstlerischen bzw. theoretischen Gebiet, sondern auch in allen Aspekten des praktischen Lebens. Aus tausenderlei Gründen, von denen die östliche Erfahrung am offensichtlichsten ist, wissen wir, dass eine an die Macht gelangte Ideologie aus jeder teilweisen Wahrheit eine absolute Lüge macht… Wir sind keine Macht innerhalb der Gesellschaft, so dass unsere ‘Ausschlüsse’ nur unsere Freiheit zum Ausdruck bringen, uns von dem um uns herum oder sogar unter uns vorhandenen Konfusionismus zu unterscheiden, der dieser bestehenden sozialen Macht viel näher steht und all ihre Vorteile besitzt. Nie wollten wir irgendwen daran hindern, seine Gedanken auszudrücken oder nach seinem Willen zu handeln (und wir haben nie versucht, die praktische Stellung zu erlangen, die es uns ermöglicht hätte, einen Druck in dieser Richtung auszuüben). Nur weigern wir uns, selbst gegen unsere Überzeugungen und Neigungen mit dem Konfusionismus vermischt zu werden. Beachten Sie, dass es um so lebenswichtiger ist, da wir fast gar keine Möglichkeiten haben, unsere eigenen Überzeugungen und Neigungen frei auszudrücken, so wie sie wirklich sind, da sie deutlich gegen den Strom schwimmen. Unsere ‘Intoleranz’ kann nicht mehr als eine - sehr begrenzte - Antwort auf die praktisch sehr starke Intoleranz und Ausschließlichkeit sein, auf die wir besonders bei der ‘etablierten Intelligenz’ überall stoßen (und die viel stärker sind als die, unter denen der Surrealismus gelitten haben mag) und die uns kaum überraschen. So wie wir keineswegs eine Kontrollmacht in der Gesellschaft sind, weigern wir uns, eines Tages durch irgendeine politische Modifizierung zu einer solchen zu werden (auf diesem Gebiet befürworten wir die radikale Selbstverwaltung, Arbeiterräte, die jede - staatliche oder sogar ‘theoretische’ - getrennte Macht abschaffen). Wir lehnen es sogar ab, uns in dem kleinen, uns gegenwärtig möglichen Maßstab in irgendeine Macht zu verwandeln, indem wir es nicht akzeptieren, Jünger anzuwerben, die uns zusammen mit diesem Recht auf eine Kontrolle über sie und auf ihre Führung einen größeren anerkannten sozialen Wert verleihen würden - aber als eine übliche künstlerische bzw. politische Ideologie… Man kann die praktischen Bedingungen eines freien Denkens hier und im Osten - oder z.B. in Spanien - nicht verwechseln. Dort, wo nichts offen ausgedrückt werden darf, muss man selbstverständlich das Recht auf den Ausdruck für alle fordern. Aber unter Verhältnissen, in denen jeder sich ausdrücken darf - wenn auch mit enormer Ungleichheit -, muss ein radikales Denken zuerst - ohne selbstverständlich diese praktische Freiheit abschaffen zu wollen - sein Recht darauf fordern, zu existieren (einen ‘ungewohnten Weg’ dieses Möglichen), ohne ‘rekuperiert’ und vertuscht zu werden durch eine Ordnung, die offensichtlich diese offene Konfusion und Kompliziertheit beherrscht, die sichtbar sind und sogar schließlich das Monopol der Erscheinung besitzen (vgl. unsere Kritik des ‘Spektakels’ in einer Gesellschaft des Konsums von im Überfluss vorhandenen Waren). Letzten Endes ist die herrschende Toleranz einseitig und dies auf Weltebene trotz der Antagonismen und der Kompliziertheit der verschiedenen Typen von Ausbeutungsgesellschaften. Die überall etablierte Macht - sie wird grundsätzlich von den toleranten Leuten toleriert, die das Wort führen. Sie sagen, Sie leben in X… Sie würden in Paris erleben, wie unsicher diese toleranten linken Intellektuellen letztlich sind - voller Verständnis und Toleranz auch gegenüber den in X. bzw. in Peking etablierten Verhältnissen. Die ‘Richtung der Geschichte’ - so nennen sie ihre hegelianische Billigung all dessen, was sie täglich in den Zeitungen lesen.

(Aus dem zweiten Brief.) Eine radikal andere Ausgangsbasis stellt faktisch zuerst die Wahrheit der vergangenen Befreiungsversuche wieder her. Von der alten Konfusion muss man sich deutlich unterscheiden und folglich auch von deren offenen oder verhohlenen oder einfach unbewussten Anhängern. Natürlich müssen wir die negative Last der von uns gewählten Haltung ertragen. Dieses Negative müssen wir zugeben… Wir sind mit Ihnen einverstanden über die Einheit des Problems der aktuellen Avantgarde. Wir fangen praktisch mit dem Dialog überall dort an, wo diese Geistesverfassung in einem radikalen Sinn zur Erscheinung kommt. Denn diese Geistesverfassung ist in sich selbst durch einen Kampf zwischen ihrer Wahrheit einerseits und ihrer durch die Macht organisierten Rekuperierung andererseits geteilt.