Der Historiker Lefebvre

Bekannt ist, wie Henri Lefebvre von 14 eilig abgeschriebenen situationistischen Thesen ausging, um vorgeblich eine neue Interpretation der Pariser Kommune herzustellen (vgl. das im Februar 1963 herausgegebene S.I.-Flugblatt ‘In die Mülleimer der Geschichte’). Da sein Buch, ‘Die Proklamation der Kommune’, dessen - importierte - Schlussfolgerung er schon Ende 1962 zur Bewunderung freigegeben hatte, endlich 1965 bei Gallimard herausgekommen ist, müssen noch einige Bemerkungen über dieses lange, nochmal überdachte und jetzt ganz zugängliche Werk gemacht werden, sowie über dessen allgemein sehr erfolgreiche Aufnahme.

Die situationistische Formel: “Die Kommune ist die größte Fete des XIX. Jahrhunderts gewesen” ist als Leitgedanke dieser ‘Suche’ nach einer ‘totalen Geschichte’ anerkannt worden (aber selbstverständlich ohne das geringste Bewusstwerden einer theoretischen Erneuerung, zu der sie nur den Grund legen wollte) und wurde gleich von drei Vierteln der Kritiker begrüßt. “Das, was Lefebvre in seinem Buch eine ‘Fete’ nennt. Tatsächlich war alles eine Fete in den Tagen und Nächten der Kommune” (Duvignaud im ‘Nouvel Observateur’ vom 22.4.65). “Der Aufstand vom März 1871 war zuerst eine Fete…”(C. Mettra, ‘Express’ vom 5.4.65). “Henri Lefebvres Werk über die Kommune läuft nicht Gefahr, unbeachtet zu bleiben. Die Pariser Kommune ist ‘eine ungeheuerliche, eine herrliche Fete’, ‘eine revolutionäre Fete und die Fete der Revolution zugleich’ gewesen. So wird der Ton angegeben”, A. Duhamel, ‘Le Monde’ vom 6.9.65). “So hat Henri Lefebvre Recht, der gleich betont hat, wie wichtig der Stil in den großen historischen Ereignissen sei, darauf hinzuweisen, dass der Stil der Kommune die Fete war”.(J. Julliard, ‘Critique’ vom Dezember 1965). Und Michel Winock in ‘Esprit’ vom Februar 1966: “Was bietet uns die Kommune außer ‘dem Ende des Staates und der Politik’, welches ist ihre tiefere Bedeutung? Die breiteste, die man sich vorstellen kann: ‘die Verwandlung des alltäglichen Lebens in eine endlose Fete, in eine Freude, die keine andere Grenze und kein anderes Maß kennt als den schicksalhaften Tod’. Lefebvre tritt hier nicht vor der utopischen Literatur zurück: gerade aus der aufmerksamen, tagtäglichen Beobachtung der Pariser Ereignisse von 1871 - derer, die manchmal die am wenigsten ‘historischen’ zu sein scheinen - folgert er den ‘Fetenstil’ als ‘den eigenen Stil der Kommune’. Das Wort klingt nicht übertrieben… Was Lefebvre dann dazu führt, in der Kommune ‘den einzigen Versuch eines revolutionären Urbanismus’ zu sehen… Von nun an kann man nicht mehr von der Kommune sprechen, ohne Henri Lefebvres Ideen zu kennen.”

Man sollte übrigens nicht glauben, dass Lefebvre seine historische Nachforschung darauf beschränkt hat, augenblicklich unveröffentlichte Texte auszubeuten. In der im April 1962 herausgegebenen Nummer 7 der Zeitschrift ‘Situationistische Internationale’ waren folgende Zeilen zu lesen: “Der Ansturm der ersten Arbeiterbewegung gegen die gesamte Organisation der alten Welt ist schon lange zuende und nichts könnte ihn noch einmal zum Leben erwecken. Er schlug fehl, nicht ohne großartige Ergebnisse erzielt zu haben, die aber nicht das angestrebte Resultat waren. Zweifellos ist diese Abweichung in Richtung teilweise unerwarteter Resultate die allgemeine Regel menschlicher Aktionen, aber die Ausnahme ist eben gerade der Moment der revolutionären Aktion, der qualitative Sprung, das Alles oder Nichts. Man muss die klassische Arbeiterbewegung wieder mit offenen Augen zu studieren lernen, und vor allem klaren Kopf bewahren gegenüber den verschiedenen Arten der politischen und pseudotheoretischen Erben, denn diese haben nur ihre Schlappe geerbt. Die augenscheinlichen Erfolge dieser Bewegung sind ihre fundamentalen Fehlschläge (der Reformismus oder die Einrichtung einer staatlichen Bürokratie), und ihre Fehlschläge (die Pariser Kommune oder die Revolte in Asturien) sind bisher ihre aufschlussreichsten Erfolge für uns und für die Zukunft.” Drei Jahre später kann man diesen Absatz umgewandelt in Lefebvres Denken wie folgt lesen: “Heute müssen wir die Arbeiterbewegung wieder ganz neu studieren lernen - und zwar gleichzeitig mit klarem Kopf und kühn. Der erste, auf Europa begrenzte Ansturm dieser Bewegung gegen die alte Welt ist teilweise ein Fehlschlag. Er hat die Lage tief verändert und zu großartigen Ergebnissen geführt, die aber nicht dem entsprechen, was die Menschen der ursprünglichen Theorie und Praxis wollten. Einige von denen, die die politischen und theoretischen Erben der Kommune sein wollen, haben nur ihre Schlappe geerbt, deren Sinn sie gerade deswegen verloren haben, weil sie glauben bzw. behaupteten, erfolgreich gewesen zu sein. Gibt es nicht eine Dialektik des Sieges und der Niederlage, des Misserfolgs und des Erfolgs? Die Erfolge der revolutionären Bewegung haben ihre Misserfolge verschleiert; die Misserfolge sind dagegen - u.a. der der Kommune - auch Siege, die aufschlussreich für die Zukunft sind” (’Die Proklamation der Kommune’, S.39).

Aber, wird man sagen, Lefebvre konnte doch nicht ein so dickes Buch schreiben, indem er nur drei ’situationistische’ Seiten weitläufig ausführte? Sicher nicht. Er hat vier bis fünf seit einigen Jahren passend erschienene Bücher gelesen, dank denen er ohne Mühe aber auch ohne Einheitlichkeit mehrere Untersuchungen über den Ablauf der Ereignisse vermengen konnte (so z.B. Dautrys und Schellers Buch ‘Das ZK der zwanzig Pariser Bezirke’, Editions Sociales, 1960). Schließlich hat Lefebvre, vermutlich um seinem letzten, damals noch lebenden Lehrer Gurvitch einen Gefallen zu tun, eine Verherrlichung des ihm vollkommen unbekannten Proudhon unternommen, dem er gelassen anrechnet, so etwas wie der Erfinder der Arbeiterautonomie zu sein! Gerade dieser Proudhon, ein ständiger Befürworter der Ordnung, der die bestehende Ordnung im Privateigentum (durch das Genossenschaftswesen) und überall sonst verbessern will; der unpolitische Feind jedes gewaltsamen Kampfes; der rückständige Geist, der mitten im XIX. Jahrhundert keine andere Wahl für die Frau sieht und duldet als die zwischen dem Zustand einer Prostituierten und dem einer Hausfrau; der Mann, der seine ganze Untüchtigkeit als Moralist trefflich zusammengefasst hat, indem er sich gerade gegen das bestehende Minimum an Arbeiterautonomie entschied: “Es gibt genauso wenig ein Streikrecht wie ein Recht auf Inzest und Ehebruch.”

Das ist aber nicht alles. Schon am Anfang seines Buches zeigt Lefebvre, was für eine armselige Vorstellung der Fete bzw. der Revolution er hat. Er forscht geistlos danach, wie literarische Formen - wie die Lyrik oder das Drama - damals in Paris diese Fete ausgedrückt haben, die er gemäß seiner Hypothese dort wiederfinden muss. Damit lässt er erkennen, dass er absolut nicht verstehen kann, dass das befreite Leben über diese Formen hinausgehen und selbst als Ausdruck und Aktion dermaßen selbständig werden kann, dass es in sich selbst seine Lyrik bzw. sein Drama besitzt in einer Qualität, die sich vollkommen von diesen wiedererweckten Kunstmasken des alten Karnevals der Trennung unterscheidet. Da er die Formel in unseren Thesen, die suggeriert, dass die offizielle Geschichte der herrschenden Gesellschaft dazu geneigt ist, die subversive Bedeutung einer Epoche sogar auf dem Gebiet ihrer künstlerischen oder poetischen Ausdrucksformen ‘verschwinden zu lassen’, schlechthin auf dem geistigen Niveau des Hauswartsklatsches missverstanden hat, glaubt Lefebvre gewagt andeuten zu können, Lautréamont sei ermordet worden (S.169). Wie von den Autoren des berühmten ‘Fantomas’-Abenteuer geschrieben - jeder der Reihe nach ein Kapitel - ist Lefebvres historisches Monument mit derselben halbschlafmäßigen Lässigkeit wie ein intellektueller Abenteuerroman verfasst, dessen Höhepunkt in dieser verblüffenden Idee besteht, Marx hätte auf die Pariser Kommune gewartet, um die Zerstörung des Staates theoretisch zu befürworten.

Das situationistische Gespenst, das in Lefebvres Denken und in einigen anderen Kleinköpfen der gegenwärtigen spektakulären Kultur umgeht, wird hier durch den einem geheimnisvollen Guy Debord abgestatteten Eingangsdank ausgetrieben, der damit aber in dieser glücklicherweise gespenstischen Form an der Ausarbeitung und Billigung dieses Buchs teilhat. Seit Stalinud, den der treue Henri Lefebvre hoffnungslos 30 Jahre lang geliebt hat (es sei denn, er hatte Garaudisk noch lieber) konnte man keine tüchtigere Verbesserung der historischen Genauigkeit erleben - typographisch (mangels besserer Mittel).

Der Denker aus Nanterre - wie kein anderer in der ganzen Pariser Gegend gegen die Lächerlichkeit immun - hat durch seine Handhabung einer glänzenden Dialektik ein schwieriges Thema gemeistert.