Die Produktion des Verfalls

“Es gab schon Maschinen, die eigens dazu hergestellt wurden, zu nichts zu dienen. Jetzt gibt’s noch Besseres: in New York wird für einen Dollar eine Maschine verkauft, die sich selbst verschlingt. Kaum haben Sie einen bestimmten roten Knopf gedrückt, setzt ein lärmender Mechanismus an und langsam und unausweichlich klemmen sich die Bestandteile der Maschine fest, zerspringen und fallen ab. Nach einer Viertelstunde bleibt nur ein Haufen von auseinandergegangenen Stangen, Federn, Rollen und Räderwerk übrig! Der höchste Luxus dabei: für den Kauf dieser Maschine verspricht die Werbung - und zwar mit großer Schrift - dass das Ganze nicht wiederzuverwerten ist, nachdem man einmal damit gespielt hat!” (’Elle’, 2.9.65)

In Amerika hat 1965 das Auto, dessen Wuchern den Gebrauchswert immer mehr beschränkt, so dass es sogar allmählich zum Gadget wird (die Verkehrsverantwortlichen in New York beginnen, die Notwendigkeit eines lokalen Verbots seines Gebrauchs ins Auge zu fassen), eine Verbreitungsrate von zwei Stück in einem Viertel aller amerikanischen Familien (11 Mio.) erreicht. Laut einer Untersuchung des ‘Wall Street Journal’ werden die Käufer dadurch motiviert, “das Beste zu besitzen” und ihre Nachbarn in Bewunderung zu versetzen - ein Sisyphus-Unternehmen, da die Nachbarn zwangsläufig dasselbe tun. Diese Käufe werden durch den leichten Kredit - die Rückzahlung darf bis in 42 Monatsraten geschehen, und die verlangten Garantien werden auf ein Minimum reduziert - weit über den sozialen Sektor hinaus gefördert, dessen Reichtum eine solche Akkumulation möglich macht. Neue Gadgets, die sich die beträchtliche Ausweitung der Kriminalität zunutze machen, erscheinen auf dem Markt. In New York wird alle sechs Stunden ein Vergewaltigungsversuch und alle 12 Minuten ein Überfall gemeldet. Laut einem Bericht von Michel Gordey, der in dieser Stadt eine bisher unbekannte ‘kollektive Zwangsvorstellung des Verbrechens’ feststellt (’France-Soir’ vom 27.7.65) bieten Schaufenster und Zeitungsanzeigen Gadgets an, “die den Angreifer mit einem Elektroschock von 4.000 Volt treffen, Taschenzerstäuber, die ihn mit einer unauslöschlichen Farbe und einem von weit her erkennbaren Duft bespritzen (um die polizeilichen Ermittlungen zu erleichtern)”. 1200 Spezialpolizisten sind für die Überwachung der U-Bahn bestimmt, in der bewaffnete Überfälle und sonstige Verbrechen von 1963 bis 1964 um 52% gestiegen sind. “Die Avenues mit den großen Läden sind jetzt leer, sobald es dunkel geworden ist. Wenn ich allein gehe, fangen die seltenen Passanten, die mich von weitem erblicken, an zu laufen”. Ein langer Fernsehdokumentarfilm zeigt ‘die Selbstverteidigung eines Wohngebäudes’ nach mehreren Einbruchsfällen und einem Mord: “Die 45 Mieter des Hauses und ihre Familien haben sich in einem Verteidigungsverein zusammengetan, die Männer bewachen der Reihe nach den Hausflur und die Aufzüge und patrouillieren im Kellergeschoss und den Kellern. Am Ende der Sendung erscheint ein Polizeikommissar auf dem Schirm, um andere Wohnhäuser dazu anzuregen, sich ähnlich zu ‘organisieren’ und praktische Ratschläge zu geben…” Gordey schließt daraus, dass man “die New Yorker Psychose nicht auf die leichte Schulter nehmen kann. Was in größerem Maßstab in New York passiert, interessiert alle Großstädte, die sich in der Wachstumskrise befinden. Unsere Planer, die den amerikanischen Urbanismus für das Paris im Jahre 2.000 studieren, wissen, dass ähnliche soziologische Krisen schon in anderen Formen in Europa ausgebrochen sind bzw. ausbrechen werden”.

“Vietnam bringt die permanente Gewalt ans Tageslicht, die sich hinter dem Lächeln und der Urbanität des amerikanischen Lebens verbirgt”, stellte im Oktober das Bulletin des ‘Vietnam Day Comitee’ richtig fest. Doch beschuldigt der Bericht der nach dem Watts-Aufruhr vom kalifornischen Staat ernannten Untersuchungskommission - die zugestehen muss: “die Lage ist so ernst, dass noch schlimmere Unruhen stattfinden könnten, es sei denn, dass angemessene Maßnahmen ergriffen werden” - die ‘extremistischen’ schwarzen Führer, nicht nur die Massen zum Aufruhr angestachelt zu haben, sondern auch “die Lösung des schwarzen Problems aufrechtzuerhalten”. Man kann sogar sagen, dass im allgemeinen die ‘Extremisten’ - zu denen wir gehören - ‘die Endlösung des Problems des Menschen’ im KZ-Sinne, die die Kybernetiker der Macht zur Zeit wohl programmieren, auf skandalöse Weise aufhalten. Werden alle Gesellschaftsgruppen durch die Barbarei des Überflusses zur Selbstverteidigung genötigt, müssen nur hier und da die Werte und die zu verteidigende. Lebensweise neu definiert werden.

Im August 1965 fragte sich Irving Kristol im ‘Encounter’ nach Gründen für die unglaubliche Revolte der amerikanischen Studenten. Er sieht richtig, dass die Unterstützung der Forderungen der Schwarzen nur die Gelegenheit war und für die seit fünf Jahren begonnene Bewegung “der Vietnamkrieg selbst in dem Fall genausoviel ein Vorwand wie ein Grund ist.” Kristol schreibt weiter: “Wie lässt sich dieser ‘Linksrutsch’ der amerikanischen Studenten erklären mitten in einem Wohlstand und unter einer Regierung, die auf dem Gebiet des Paternalismus ihre Errungenschaften mit unerwarterer Dynamik erweitert? Dieses Rätsel konnte bis zum heutigen Tag kein Soziologe lösen. Eine Erklärung ist ganz einfach, dass diese jungen Leute Langeweile haben.” Für einen Kritiker, der das schon paradox findet, entstehen daraus ‘einige Paradoxien’: “So waren alle diese jungen Leute mit fortgeschrittenen Ideen in der Situation, von ihrer Regierung nicht verlangen zu können, dass sie einen einzigen gesetzgebenden Beschluss bewilligte”. Hier kann man am besten die Neuheit und die Originalität der Kritik entdecken, die zur Zeit in Amerika auf der Suche nach sich selbst ist, wenn man sie nach dem Maßstab von Irving Kristols Erstaunen misst. Er beurteilt von oben herab das, was ihm unverständlich bleibt - das Auftreten von Fremden in seinem Land und seinen Gewohnheiten. Aber er zeigt diese Bedeutung die er selbst nicht sieht, wenn er folgendes feststellt: “Etwas Befremdendes ist es, einer fortschrittlichen Bewegung zuzusehen, die auf der Suche nach einer fortschrittlichen Sache ist - im allgemeinen geht es umgekehrt”.

Die Umwandlung einer Gesellschaft und die politischen Kämpfe zur Veränderung einiger bestimmter Punkte innerhalb einer akzeptierten Gesellschaft sind zwei ganz verschiedene Dinge. Hier steht das Programm vor der Bewegung, dort die Bewegung vor dem Programm, das sich im Laufe des Prozesses selbst aufstellt. In derselben überentwickelten Zone des Nordostens Amerikas, in der der gigantische Stromausfall, der im November 30 Mio. Einwohner für Stunden lahmgelegt hat, gezeigt hat, welche Möglichkeiten in den hochindustriellen Ländern für Guerillas bestehen, nimmt der neueste Versuch einer Freien Universität in New York an der Suche nach der Aufstellung eines solchen Programms teil. Laut ihrem Manifest will die Free University “die Begriffe ausarbeiten, die für die Einsicht in die Ereignisses dieses Jahrhunderts notwendig sind” und damit “auf den geistigen Bankrott” des amerikanischen Erziehungswesens antworten. Diese selbstverwaltete und von Anfang an auf eine aktive Kritik gerichtete Universität, die sich noch vor jeder festen Niederlassung in irgendwelchen Gebäuden einrichtet und sich bereit erklärt, halb im Untergrund zu leben, indem sie auch in der Stadt zerstreut funktionieren kann, “ist notwendig, weil unserer Meinung nach aus den amerikanischen Universitäten bloße Institutionen der geistigen Knechtschaft gemacht worden sind. Die Studenten wurden systematisch entmenschlicht und unfähig dazu gemacht, ihr eigenes Leben zu führen - sexuell, politisch und was das Studium betrifft”. (Adresse der Free University of New York: 20 E l4th Street, New York City).