Wie man die S.I. nicht versteht

In ‘Le Monde Libertaire’ vom 14.Dezember 1964 konnte man folgendes lesen: “Unbestreitbar steht die S.I. an der Spitze der revolutionären Kritik des alltäglichen Lebens. Ein Gebiet aber, das weit davon entfernt ist, seine Bedeutung verloren zu haben, entgeht ihr - die Arbeit.” Wir sind jedoch der Meinung, dass wir sozusagen nie ein anderes Problem behandelt haben als das der Arbeit in unserer Epoche - deren Verhältnisse, Widersprüche und Ergebnisse. Vielleicht ist der Irrtum der ‘Le Monde Libertaire’ auf die Gewohnheiten des undialektischen Denkens zurückzuführen, das einen Aspekt der Wirklichkeit auf dem ihm zugestandenen Gebiet absondert, so dass dieser dann nur konventionell behandelt werden kann.

In einer Rezension der früheren Sonderausgabe der ‘Times’ über die Avantgarde schrieb ‘Le Figaro Littéraire’ am 3.September 1964: “So streiten sich Michèle Bernstein und Jörgen Nash von einer Seite zur anderen. Beide befürworten den ‘internationalen Situationismus’. Beide verlangen, dass die Kunst nicht mehr von der Welt getrennt wird, und die Gesellschaft so umgewandelt wird, dass das Individuum frei ist, ’sein Leben zu spielen’. Und doch schließt Michèle Bernstein Nash aus. Hier begegnet man einem der Hauptzüge der Avantgarde … Sie neigt zum Absoluten”. Uns scheint es vollkommen unpassend zu sein, nach einem Absoluten des ‘Situationismus’ zu greifen, um einen Nash loszuwerden. Es ist wirklich nicht schwer, sich relativ zurechtzufinden.

In Holland beschäftigte sich das ‘Rotterdamsch Nieuwsblad’ vom 5.Dezember 1964 auf einer ganzen Seite mit den ‘Situationistischen Zügen im Gesicht unserer Epoche’. Durch diesen Titel wird ein wenig einnehmendes Gesicht vorgestellt, da man dort in einem großen Durcheinander die S.I. zusammen mit etwas Nashismus, etwas Happening und sogar dem Bild des Avantgarderoyalisten George Mathieu, hier noch einmal als ein unglücklicher Kandidat, findet. Debord wird ‘der große Prophet der Bewegung’ genannt und man wundert sich darüber, dass er das Wort ‘Situationismus’ ablehnt. In diesem Artikel kommt nur die Dummheit rein zum Vorschein.

Wir wollen die vielen konfusionistischen Artikel in der skandinavischen Presse übersehen, die kaum mehr gelten als ihr in ‘Politiken’ vom 11.Oktober 1964 erschienenes gemeinsames Vorbild, in dem allen Ernstes nach den Gründen der ‘nashistischen Abweichung’ gesucht wurde, die dem Lokalpatriotismus geschmeichelt hatte. Genauso schlecht verstanden (und auch schlecht übersetzt und schlecht zitiert) sind wir in der 2. Nummer der Bulletins ‘Anschlag’, das eine zaghafte Suche nach einer radikalen Position in Deutschland zum Ausdruck bringt. Und noch schlechter z.B. in dem zwar lobenden, aber unklugen Artikel, in dem ein Lapassade-Anhänger, René Lourau, geglaubt hatte, sich in der Nummer 82 der ‘Tour de Feu’ mit der S.I. beschäftigen zu müssen. Nichts ist doch so viel wert wie die seltsame Andeutung Paolo Marinottis, des Direktors des Internationalen Zentrums der Künste und Bräuche in Venedig, der in einer Veröffentlichung dieses Zentrums über eine frühere Ausstellung Jorns im Palazzo Grassi berichtet. Da Jorn ein Mitbegründer der S.I. war und seitdem andere Verdienste von ihm anerkannt wurden, schreibt Marinotti: “Erinnern wir uns an die ‘Bewegung für ein Imaginistisches Bauhaus’ und an diese ‘Situationistische Internationale’, die beide von 1954 bis 1962 von Jorn gegründet wurden.” Das ist wirklich ein undeutlicher Historiker. Soll das heißen, dass die S.I. 1962 am Ende war? Wir sind aber immer noch nicht zu einem für die Kulturgeschichte so beruhigenden Gegenstand geworden. Oder meine Marinotti, Jorn habe seine erste Bewegung 1954 und die S.I. 1962 gegründet? Das würde uns jünger machen, als wir sind. Muss man den Satz aber nicht so verstehen, dass Jorn 8 Jahre gebraucht hat, um beide Bewegungen zu gründen? Wenn er allein handeln musste, kann man die Dauer dieser Herkulesarbeit verstehen! Aber es stellt sich dann eine tieferliegende Frage, die eine Vorbedingung für die lyrische Begeisterung des Direktor Marinotti ist: wie kann man sich nur an das erinnern, was man noch nicht kennengelernt hat?

Was den Ex-’Observateur’ betrifft, so hatte er, kurz bevor er verschwinden musste (1.10.64), Gefallen daran gefunden, in einer kleinen Notiz, scherzhaft ‘Die Revolution der Genies’ betitelt, zuzugeben, dass unsere Zeitschrift es wegen ihrer “revolutionären Art und Weise, auf jeder Ebene an die moderne Welt heranzutreten” verdiente, “mit Sorgfalt untersucht zu werden” - und dies “trotz ihrer Maßlosigkeit”. Was diesen Punkt betrifft, erfahren wir also nie etwas. Wie Pancho Villa am Ende des schönen Films von Jack Conway können wir nur fragen: “Welche Maßlosigkeit?”.